
Unter den vielen Werken, die man in Florenz von Michelangelo bewundern kann, gibt es eines, das besonders originell und weitgehend unbekannt ist: der Bacchus, ausgestellt in einem unserer Lieblingsmuseen, dem Bargello. Im Erdgeschoss dieses imposanten mittelalterlichen Gebäudes befindet sich ein großer Saal mit zahlreichen Skulpturen des berühmten Michelangelo. Bacchus ist die erste Figur, die uns beim Betreten des Museums empfängt. Nicht zufällig steht er am Anfang des Rundgangs – es handelt sich nämlich um ein Frühwerk des großen Bildhauers. Betrachtet man diese herrliche Marmorstatue, die Michelangelo mit etwas über 20 Jahren schuf, ist man fasziniert vom direkten und realistischen Ausdruck, mit dem er Bacchus darstellte.
Als Gott des Rausches und Symbol der Ausschweifung zeigt sich Bacchus mit rundem, harmonischem und sinnlichem Gesicht, eingerahmt von Weintrauben. Der halb geöffnete Mund und der leicht abwesende Blick betonen seine Hingabe an die Genüsse des Lebens. Die göttliche Figur steht lässig auf dem linken Bein, während sie unbekümmert einen großen Weinkelch hebt. Der völlig nackte Körper und die leicht instabile Haltung lassen erkennen: Auch Götter verlieren die Kontrolle, wenn sie zu viel trinken!
An ihn gelehnt – fast stützend – erscheint ein kleiner Satyr mit spitzen Ohren. Er sitzt auf einem Baumstumpf, lächelt schelmisch und ist bereit, in eine Weintraube zu beißen. Das typische Pantherfell, das er traditionell trägt, ist unter seine Ziegenbeine gerutscht.
Die Muskeln beider Figuren – angespannt auf der einen Seite, entspannt auf der anderen –, die perfekt modellierten Gelenke an Schultern, Ellbogen und Knien sowie die hervortretenden Rippen durch die Körperdrehung zeugen von Michelangelos tiefem Verständnis der menschlichen Anatomie. Dieses Wissen hatte er sich durch lange, einsame Studien an Leichen in Krankenhäusern angeeignet.
Die Haltung des Bacchus erinnert an das antike „Kontrapost“-Prinzip oder Chiastik: Das linke Bein ist gestreckt, um das Gewicht zu tragen, das rechte leicht gebeugt. Diese Bewegung entspricht auch der Armhaltung – der linke Arm ist ausgestreckt und folgt dem Bein, während der rechte die Weinschale hebt.
In dieser Skulptur ließ sich Michelangelo nicht nur von der Antike inspirieren – er ahmte sie bewusst nach, so wie es der Auftraggeber, Kardinal Raffaele Riario, ein kunstsinniger Sammler, verlangte. Der Geschichte nach war der Kardinal einige Jahre zuvor Opfer eines Kunstbetrugs geworden: Er hatte einen schlafenden Amor als antike Statue zu hohem Preis erworben – tatsächlich war es ein Werk des jungen Michelangelo.
Als der Betrug aufflog, wollte Riario unbedingt den Künstler kennenlernen, der die Antike so überzeugend nachbilden konnte. Beeindruckt von dessen Talent, beauftragte er ihn mit einer neuen Skulptur: dem Bacchus.
Obwohl der Marmor im Bargello eine der wenigen vollständig vollendeten Arbeiten Michelangelos ist, war der Kardinal vom Ergebnis enttäuscht – so sehr, dass er die Skulptur sofort nach ihrer Fertigstellung verkaufte.
Nach mehreren Besitzerwechseln wurde der Bacchus schließlich von den Medici erworben und aus Rom nach Florenz gebracht, um in die großherzoglichen Sammlungen aufgenommen zu werden.
Ist dieses Werk Michelangelos nun gelungen oder nicht?
Das Urteil überlassen wir euch – wenn ihr es bei eurem Besuch im Bargello-Museum auf unserer Michelangelo-Tour mit eigenen Augen seht!